Die große Wörterfabrik

In einem Land, in dem Worte sehr kostbar sind…

…hat die Bedeutung ihrer Botschaft einen unschätzbaren Wert. In unserer Realität scheinen viele Menschen nicht sonderlich über die Wirkung ihrer Worte nachzudenken. Es gibt jene, die schmeißen mit Worten nur so um sich und es gibt solche, die ihre Worte mit Sorgfalt und Bedacht auswählen – denn Worte sind kostbar und können Großes bewirken.

Agnès de Lestrade (Autorin) und Valeria Docampo (Illustratorin) erschaffen in ihrem Bilderbuch »Die große Wörterfabrik«, welches erstmals 2010 durch den Mixtvision Verlag erschienen ist, eine Welt, in der sich die wenigsten Menschen schöne Worte leisten können.

Paul möchte Marie gerne zu ihrem Geburtstag sagen, wie gern er sie hat, doch kann er sich die passenden Worte leider nicht leisten. Im Laufe der Geschichte erfahren wir, wie es ihm gelingt mit scheinbar banalen Wörtern, die er mit seinem Schmetterlingsnetz in der Luft gefangen hat, seine Zuneigung zu offenbaren.

Die Poesie dieses Bilderbuchs ergreift nicht nur Kinder ab 3 Jahren, sondern auch Erwachsene, indem sie ihnen die Macht jedes einzelnen Wortes und der Gefühle dahinter vor Augen führt.

 

Leeren Worten eine neue Bedeutung geben

»Kirsche, Staub, Stuhl« sind Wörter, mit einer unglaublich tiefen Bedeutung für Paul.

In seiner Welt gibt es eine große graue Wörterfabrik, die Worte jeglicher Art und Sprache herstellt. Um die Wörter auszusprechen, müssen Menschen sie vorher kaufen und schlucken. Da sie für die meisten Menschen unbezahlbar sind, kaufen sie die Worte im günstigen Schlussverkauf oder durchwühlen den Müll nach Worten. Hin und wieder fliegen auch einzelne Wörter durch die Luft und werden von den Kindern des Landes mit ihren Schmetterlingsnetzen gefangen. Doch all die Worte sind meist minderwertig und taugen nichts.

Trotzdem spart sich Paul seine gefangenen Worte für einen ganz besonderen Moment auf – er möchte seinem Nachbarsmädchen Marie an ihrem Geburtstag zeigen, wie gern er sie hat. Im Gegensatz zu seinem reichen Konkurrenten Oskar, der Marie zum Geburtstag mit einer wortreichen Liebeserklärung überschüttet, kann sich Paul ein »Ich mag dich« nicht leisten. Daher nimmt er all seinen Mut zusammen, lächelt sie an und legt seine ganze Zuneigung in seine drei gefangenen Worte. Ob Marie die Botschaft hinter seinen Worten versteht?!

Durch die wunderschöne, schon fast düstere Illustration, die hauptsächlich in Schwarz, Braun-, Beige- und Rottönen gehalten ist, wird die frustrierte Stimmung der Menschen, die sich in dem Land der großen Wörterfabrik nicht ausdrücken können aufgegriffen. Für die Untermalung der Stimmung wird viel mit den Kontrasten von Hell und Dunkel gearbeitet. Die große Wörterfabrik ist sehr dunkel, farblos und mechanisch gestaltet. Sie hat nichts menschliches und strahlt keinerlei Wärme aus (die Wörter doch eigentlich in uns auslösen könnten). Die Häuser der Menschen haben hingegen rote Dächer.

Der Großteil der Menschen trägt weiße Kleidung mit hauchdünnen Streifen, die an ein leeres Schreibpapier erinnern lassen. Bei den meisten ist diese Kleidung unbeschrieben. Manche Kinder haben jedoch Motive, wie mit Bleistift, darauf skizziert. Pauls weiße Weste ist in seiner Bauchregion mit roten Schmetterlingen geschmückt.

Einzigst die Wohlhabenden tragen ihre Nase weit oben und dunkle Kleidung mit Wörtern bedruckt, die wie eine Art Statussymbol wirken.

Auffällig ist, dass die weniger wohlhabenden Menschen im Gegensatz zu den Kindern und grimmigen Reichen kein erkennbares Gesicht haben und geduckt laufen. Sie wirken ohne Gesicht austauschbar und “weniger Wert”. Jedoch tragen sie in kleineren und die Kinder in größeren Anteilen rote Kleidung.

Rot – die Farbe der Liebe – spielt in dem sonst eher farbarmen Buch eine große Rolle und könnte darauf hinweisen, dass die Gefühle und Gesten in der Zwischenmenschlichkeit wesentlicher sind, als leere Worte. Den Wert, den viele Erwachsene in ihrer Sehnsucht nach Mehr vergessen haben, scheinen die Kinder noch zu erkennen. Sie sind die einzigen, die lächeln. Am Ende tanzen jene rote Schmetterlinge, welche anfangs auf Pauls Weste abgebildet waren, um die beiden glücklichen Kinder herum, die sich wortlos ihre Zuneigung zeigen.

Des Weiteren ist es bemerkenswert, dass sich die Darstellung der großen Wörterfabrik optisch an den Turm von Babel anlehnt, was eine Anspielung auf die Spaltung der Gesellschaft durch die Sprachverwirrung nahelegt. Denn die Gesellschaft des Landes wirkt allein durch die Kleidung, erkennbare Mimik und Körperhaltung der Menschen entzweit.

Das stilistische und durchdachte Zusammenspiel von Illustration und Typografie hebt durch den Einsatz von herausragenden, großen Worten die Kostbarkeit von Sprache und Liebe besonders hervor. Die wortreiche Liebeserklärung von Pauls Gegenspieler Oskar wirkt in großen, plakativen Buchstaben, wie kühl gegen die Wand geschmettert. Es ist keinerlei Emotion dahinter zu erkennen. Hingegen scheinen Pauls drei Worte zart und schwebend Maries Ohr zu erreichen. Sie sind von weiteren federleichten Buchstaben umhüllt, welche andeuten könnten, dass mehr hinter diesen Worten steckt.

Die große Wörterfabrik

Fazit

In unserer Gesellschaft erfahren Kinder von früh an, dass lautere Menschen mehr zu zählen scheinen. Sie werden gehört, sie setzen sich durch, sie kommen oft zuerst dran und übertönen die Ruhigeren. Das bemerken sowohl die ruhigeren, aber auch die lauteren Menschen, die oftmals nach außen hin vor Selbstbewusstsein strotzen.

»Die große Wörterfabrik« ein sehr ausdrucksstarkes Bilderbuch, das nicht vieler Worte bedarf. Mit seiner poetischen Art ermutigt es seine Leser:innen die richtigen Wörter zu finden und offenbart was Sprache und Gefühle alles können. Es kommt nicht auf die Menge der Wörter an, sondern auf die Bedeutung dahinter. Werfen Menschen zu oft mit vielen unbedachten Worten und leeren Versprechen um sich, werden ihre Aussagen schnell bedeutungslos.

Denn wie zu Beginn gesagt, Worte sind kostbar und können Großes bewirken!

Buchinformationen

Titel: Die Große Wörterfabrik
Text: Agnès de Lestrade
Illustration: Valeria Docampo
Verlag: Mixtvision Verlag, 18. Auflage, 2023
Genre: Bilderbuch, Sprache und Gefühle
Altersempfehlung: ab 3-6 Jahre
Seitenanzahl: Hardcover, 40 Seiten

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