»Geh doch zu Momo!«
»Geh doch zu Momo!« sagten die Menschen in der Geschichte zu jenen, die Momo noch nicht kannten. Die meisten Erwachsenen werden in ihrem Leben bereits mit den faszinierenden Geschichten »Momo«, »Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch« oder »Die unendliche Geschichte« von Michael Ende in Berührung gekommen sein – doch sind Kinder im Kindergartenalter noch zu jung für die Komplexität der Inhalte, oder?
Die Illustratorin Simona Ceccarelli hat den Anfang der namhaften Erzählung von »Momo«, von Michael Ende geschrieben, in dem Bilderbuch »MOMO – Ein Bilderbuch« des Thienemann-Esslinger Verlags in einzigartige, kunstvolle Bilder gehüllt, welche die eigene Fantasie regelrecht erblühen lassen. Die Passagen aus dem Originaltext für die Bilderbuchfassung wurden mit Bedacht von Uwe-Michael Gutzschhahn ausgewählt.
Die fantasievolle Darstellung der Geschichte zieht Kinder ab einem Alter von etwa 4-6 Jahren in ihren Bann und regt sie zum Hinterfragen und Weiterspinnen der Geschichte an, während sie das Geheimnis der Zeit und des wahren Zuhörens erfahren. Der Text ist in einer gut leserlichen Serifenschrift so in die Bilderbuchseiten integriert, dass es gerade richtig ist: so viel, dass jede einzelne Doppelseite durch das Zusammenspiel von Text und Bild einen Sinn, einen eigenen kleinen Kontext für sich ergibt; und gleichzeitig nicht überladen, sodass der Inhalt von Groß und Klein leicht zu erfassen ist und zum gemeinsamen Gespräch über die mögliche Deutung einlädt.
Das alltägliche Geheimnis, das jeder kennt und doch vergisst
Es gibt etwas in unserem Leben, das uns alle betrifft. Wirklich alle, egal ob klein oder groß, jung oder alt, arm oder reich und ganz egal woher man kommt oder wo man lebt. Es ist ein Geheimnis, das jedem Menschen bekannt ist und doch so häufig übersehen, von manchen sogar absichtlich ignoriert zu werden scheint. Noch bevor die Erzählung von Momo beginnt, werden die Leser:innen in dieses Geheimnis eingeweiht: unsere Zeit.
»Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.«
Doch was genau ist Zeit? Wie wir sie messen, ist uns klar. Und doch wissen wir alle, dass Zeit nicht gleich Zeit bedeutet. Mal verfliegt sie in Windeseile und mal zieht sie sich in die Länge wie Kaugummi. Und doch ist Zeit immer vergänglich – und genau das macht sie so wertvoll.
Zu Beginn der Geschichte lernen die Leser:innen Momo kennen, ein Kind, das in schlichten Verhältnissen in der Ruine eines alten Amphitheaters lebt. Die Person von Momo steht, untypisch für Protagonist:innen, in der Erzählung eher im Hintergrund. Aufgrund der merkwürdigen Kleidung ist es den Bewohner:innen der Stadt unklar, ob es sich wirklich um ein Mädchen handle. Die Leser:innen erfahren weder woher Momo kommt, noch wer und wo die Familie ist. Momo ist einfach da.
Was Momo von allen anderen abhebt, ist ihre besondere Gabe des Zuhörens. Wirkliches Zuhören. Ohne anderen ihre Meinung aufzudrängen, ihre Gedanken durch Fragen zu lenken oder sie zu verurteilen. Sie nimmt sich die Zeit und hört so zu, wie es die wenigsten Menschen können. Und indem sie ihnen mit aller Aufmerksamkeit zuhört, hilft sie ihnen dabei sich selbst zu verstehen, sich einander zu verstehen und eigene Lösungen zu finden. Auch die Kinder der Stadt spielen bei ihr so gut, wie nirgends sonst. Und darum spricht es sich schnell herum, dass alle Momo brauchen.
Beppo Straßenkehrer ist einer der beiden engsten Freunde von Momo, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Beppo ist ein alter, introvertierter Mann, der seine wenigen Worte sehr bedacht und nur nach Notwendigkeit auswählt.
Gigi Fremdenführer, der andere von ihnen, ist hingegen ist ein junger, sehr extrovertierter Mann, der mit seinen bunten Einfällen und seiner leichtfertigen Zunge den Menschen ausschweifende Geschichten aufschwatzt.
Dass Momos beste Freunde so gegensätzlich sind, verdeutlicht, dass sie die Menschen um sich herum nicht nach irgendwelchen Kriterien bewertet, sondern so annimmt, wie sie sind und darüber hinaus sogar miteinander vereint.
»Und wer nun noch immer meint, zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut kann.«
Fazit
Momos besondere Gabe des Zuhörens wird in unserem Alltag schnell unterschätzt bzw. der Wert des wahren Zuhörens und der Zeit, die wir für unsere Lebensgestaltung haben, oft vergessen. Wir nehmen uns wenig Zeit, um mit unserer vollen Aufmerksamkeit wirklich im Moment füreinander präsent zu sein und sind, während andere mit uns reden, in Gedanken schnell schon wieder woanders.
Mit Momo hat Michael Ende eine wunderbare Geschichte geschaffen, die Groß und Klein wieder an die essenziellen Werte des Lebens erinnern lässt, während gleichzeitig die Fantasie ins Sprudeln gerät.
Simona Ceccarelli untermalt diese fabelhafte Geschichte mit ihrer detailverliebten Illustration. Im Gegensatz zur kompletten Geschichte von Michael Endes »Momo«, endet in diesem Bilderbuch die Erzählung bereits, bevor die Zeitdiebe erscheinen. Somit bleibt den Leser:innen die Unheimlichkeit der grauen Herren und die Komplexität der Zeit im gesellschaftlichen Kontext erspart.
Stattdessen wird der Fokus auf die Bedeutung des wahrhaftigen, aufmerksamen und wertfreien Zuhörens gelegt, was diese herausragende, zwischenmenschliche Eigenschaft bereits Kindern im jungen Alter zugänglich macht und hoffentlich auch den einen oder anderen Erwachsenen zum Nachdenken anregt.
Buchinformationen
Titel: MOMO – Ein Bilderbuch
Text: Michael Ende
Illustration: Simona Ceccarelli
Verlag: Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart, 3. Auflage 2023
Genre: Bilderbuch
Altersempfehlung: ab 4-6 Jahren
Seitenanzahl: Hardcover, 32 Seiten