»Vater, Mutter, Kind… und die anderen?!«
»Sollen wir Vater, Mutter, Kind spielen?« lautet eine der wohl häufigsten Fragen von Drei- bis Sechsjährigen im Rollenspiel. Sie verarbeiten ihre Erfahrungen, indem sie ihren Alltag, der größtenteils in ihrer Familie stattfindet, und Gelerntes nachspielen. Vater, Mutter, Kind, … doch was ist mit den anderen Familienformen?
Durch das unterhaltsame und informative Sachbuch »Alles Familie!« des Klett Kinderbuch Verlags von Alexandra Maxeiner (Autorin) und Anke Kuhl (Illustratorin) finden diese ihren Platz im Kinderzimmer. Beginnend im Tierreich, über die Steinzeitmenschen und Großfamilien werden Kinder ab etwa 4 Jahren durch die verschiedensten Familienkonstellationen der heutigen Zeit geführt. Mit einem detailverliebten Comicstil und einer gut leserlichen Handschrift in übersichtlichen Abschnitten lockern Alexandra Maxeiner und Anke Kuhl die komplizierten Konstrukte der Familienverhältnisse auf und machen sie durch das ergänzende Zusammenspiel von Text und Bild für Groß und Klein nachvollziehbar.
Der Untertitel »Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten« verrät auf dem ersten Blick, worum es in diesem Buch geht: es gibt nicht nur das eine klassische Familienmodell, sondern eine Vielfalt an teils verstrickten Konstellationen. Familien sind so individuell, wie der Mensch selbst – keine gleicht der anderen und doch ist Familie Familie.
Eine Führung durch den Dschungel an verstrickten Familienkonstrukten
»Jeder Mensch ist das Kind von jemandem, egal wie alt er ist.«
Gleich zu Beginn wird klar, dass es weder im Tierreich noch in der historischen Laufbahn des Menschens die eine universelle Familienform gibt. Früher waren Familien größer und taten sich in der Steinzeit sogar mit anderen Familien zusammen, um ihr Überleben zu sichern. Familienformen sind stets im Wandel und passen sich den äußeren Umständen an. Heute haben Familien meist nur ein bis drei Kinder – so wie Bens Familie.
Ben lebt zusammen mit seiner großen Schwester, seiner Mama, seinem Papa und seiner Katze Minka. Seine Familie bildet die Ausgangslage für den roten Faden, der gekonnt die verschiedensten Familienkonstellationen thematisch aufeinander aufbauend miteinander verknüpft und kindgerecht verständlich macht. Es gibt Familien mit getrennten Eltern, die sich mal mehr oder weniger gut miteinander verstehen und entsprechend auch verschiedene Betreuungsmodelle der Kinder für sich nutzen. Manche verlieben sich neu, andere bleiben alleine. Die komplizierte Zusammenstellung einer kunterbunten Patchworkfamilie mit leiblichen Geschwistern, Halb- und Stiefgeschwistern sowie das Wechselmodell der Betreuung werden anhand Jakobs Familie dargestellt. Sie ist das Paradebeispiel für das gelingende Zusammenspiel von Text und Illustration in diesem Buch. Jakob bildet den Mittelpunkt und ist von seinen einzelnen Familienmitgliedern umgeben. Die Beziehungen der Personen sind durch farbige Pfeile, welche durch eine Legende erklärt werden, einander zugeordnet. Der Text rundet durch seine sachliche, konkrete aber nachvollziehbare Beschreibung in kurzen Abschnitten das Verständnis des verstrickten Familienbildes ab und schafft weitere Klarheit wer zu wem weshalb und wie in einem Verhältnis zueinander steht.
Über das Wechselmodell der Betreuung finden auch sogenannte Regenbogenfamilien, in denen Kinder zwei homosexuelle Mamas oder Papas haben, Adoptiv- und Pflegefamilien sowie Kinderdörfer ihren Platz. Es gibt Waisenkinder und Halbwaisen, die es manchmal ziemlich blöd finden, wenn der hinterbliebene Elternteil sich neu verliebt. Dabei gelingt der Spagat zwischen einer wertfreien Beschreibung der verschiedenen Familienkonstrukte und der Darstellung der individuellen Annahmeformen sowohl von Kindern als auch von den (Stief-)Eltern. Auch Kulturen können das Image prägen. In Schweden werden Stiefeltern als »Plastikmama« oder »Plastikpapa« bezeichnet, weil sie unechte Eltern seien. In Frankreich wird hingegen mit dem Märchen aufgeräumt, dass Stiefeltern immer hässlich und böse seien. Dort werden Stiefeltern »schöne Mutter« oder »schöner Vater« genannt. Von »Mutti« und »Paps« über »Dieter« werden alle möglichen Kosenamen, die Kinder für ihre Eltern haben, aber auch umgekehrt mit »Hase« oder »Püppi«, benannt.
»Seinen eigenen Familiengeruch riecht man selber oft gar nicht. Nur tief drin in den Kleidern oder Kuscheltieren riecht es gut nach zu Hause.«
Neben den oberflächigen Eigenschaften verschiedenster Familien werden die individuellen Eigenarten und Beziehungen von Familien nicht außer Acht gelassen. Es gibt blutsverwandte Familien, die sich das Muttermal über dem Po, den krummen Zeh oder das Gesangstalent teilen sowie Wahlfamilien, die sich besser als manche leibliche Familie verstehen. Manche Familien stehen sich sehr nahe und haben eine Art Geheimsprache untereinander entwickelt. Andere reden nicht mehr miteinander. Von lauten und aktiven Familien über leise Couchpotatoes, Familien die gemeinsame Hobbys ausüben oder in denen die einzelnen Familienmitglieder lieber getrennt voneinander Dinge unternehmen, über Zwillinge und die gleichaltrige Tante ihrer Nichte – Familie ist Familie und superindividuell.
Jeder Mensch kam als Baby seiner Eltern auf die Welt und ist egal, wie alt er ist, das Kind von jemandem – auch wenn man sich das bei einigen Personen nicht vorstellen kann.
Fazit
Durch die einfache und kindgerechte Darstellung führt das Buch »Alles Familie!«, das zurecht mit dem Deutschen Literatur Preis ausgezeichnet wurde, seine kleinen und großen Leser:innen durch den Dschungel der vielfältigen und individuellen Familienkonstrukte. Als Leser:in spürt man die Mühe der Autorin und Illustratorin, die noch so kleinste Eigenart, die Familie ausmacht, zu berücksichtigen, ohne dass die Darstellung dadurch erzwungen wirkt.
Ich würde das Buch ab einem Alter empfehlen, in dem das Kind auf dem sprachlichen Niveau ist, dass die Themen schon detaillierter nachbesprochen werden können. Die Inhalte des Buchs bieten wunderbare Impulse, die im gemeinsamen Gespräch aufgegriffen und vertieft werden können – mit dem Hinweis, dass die dargestellten Familien nur als Beispiele dienen. Zum Beispiel tun sich in der Regenbogenfamilie ein lesbisches und ein schwules Paar zusammen, um gemeinsam Kinder zu zeugen und im Wechselmodell zu betreuen. Sicherlich gibt es diese Variante hin und wieder, jedoch bin ich mir nicht sicher, wie realitätsnah dieses Beispiel ist. Trotzdem ist der Kern, um den es geht, positiv hervorzuheben – und zwar dass Kinder erfahren, dass es auch Kinder mit zwei Mamas oder zwei Papas gibt. Hingegen werden alleinerziehende Eltern, die sich bewusst dazu entscheiden, durch eine künstliche Befruchtung, ohne Partner:in ein Kind zu bekommen, nicht erwähnt, was daran liegen könnte, dass die Erstauflage des Buchs von 2010 ist. Zudem sind die Beispiele der Familienkonstrukte immer verheiratet, was inzwischen keine Voraussetzung für eine Familienbildung sein muss.
Grundsätzlich ist es eine große Herausforderung die chaotischen Zusammenhänge der komplizierten Familienkonstrukte nachvollziehbar darzustellen und dabei jede Familienform bis ins kleinste Detail zu berücksichtigen. Mit dem komplementierenden Zusammenspiel des Texts und der humorvollen Illustrationen wurde eine gute Lösung gefunden, um die diversen Variationen auch Kindern zu schildern, die bisher weniger persönlichen Bezug dazu erfahren haben.
Nur Vater, Mutter, Kind war gestern! Ganz egal, wie skurril deine Familie auch sein mag, sie ist und bleibt deine Familie und wird immer etwas besonderes sein.
Buchinformationen
Titel: Alles Familie
Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau
Text: Alexandra Maxeiner
Illustration: Anke Kuhl
Verlag: Klett Kinderbuch, Leipzig, 11. Auflage, 2019
Genre: Bilderbuch, Familie, Gesellschaft & Kultur
Altersempfehlung: ab 4 Jahren
Seitenanzahl: Hardcover, 40 Seiten