Im Schatten der Wörter – wenn Unverständnis klein macht
Es gibt diese besonderen Momente im Familienalltag, in denen wir als Eltern spüren, wie viel Mut es unsere Kinder kosten kann, sich mitzuteilen – besonders dann, wenn die Worte schwer über die Lippen kommen. Sprache wird zum Schlüssel, sowohl im alltäglichen Miteinander als auch bei den großen Entwicklungsschritten unserer Kinder. Aber was passiert, wenn die richtigen Worte einfach nicht da sind? Wenn sich unsere Kleinen nicht gehört oder verstanden fühlen?
Wir alle kennen das Gefühl, wenn uns die richtigen Worte fehlen oder unsere Gefühle von anderen nicht verstanden werden. Manchmal sind es unsere missverstandenen Gefühle oder Reaktionen oder aber auch Situationen, in denen wir die Sprache nicht beherrschen, wie z.B. in einem fremden Land. Dieses wiederholte Gefühl von Unverständnis kann uns klein und wertlos fühlen lassen.
Genau hier setzt Das kleine Häwas an – eine liebevoll erzählte Geschichte von Saskia Niechzial und Patricia Pomnitz, die 2024 im Jupitermond Verlag erschienen ist und von Marielle Rusche auf wunderschöne Weise illustriert wurde. Die Geschichte handelt von dem kleinen Häwas, einem Kind, das aufgrund seiner Sprachentwicklungsstörung oft unverstanden bleibt. Mit der Zeit zieht sich Häwas immer mehr zurück und fühlt sich so verloren, dass es beginnt, den Fragen anderer – »Hä, was?« – eine Bedeutung zu geben, die schließlich sein eigener Name wird: Häwas.
Eine Extraportion Mut und ein bisschen Zauberei
In einem Land irgendwo zwischen hier und dort lebt das kleine Häwas – ein Kind, das mit offenen Augen die Welt erkundet, in Pfützen springt und Eis liebt. Doch so sehr das kleine Häwas das Leben auch genießt, eines fällt ihm mit zunehmendem Alter schwer: Worte finden. Mal kommen sie verdreht heraus, mal wollen sie gar nicht erst ans Licht. Statt Antworten hört Häwas immer wieder: »Hä, was?«. Dieser Satz wird zum Sinnbild für das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Schließlich glaubt Häwas, das sei sein Name.
Das Bilderbuch nimmt uns mit auf eine feinfühlige Reise durch die Herausforderungen der Sprachentwicklung. Es zeigt, wie der Rückzug des Kindes immer stärker wird, je mehr es das Vertrauen in seine eigenen Worte verliert. Doch dann kommt der Wendepunkt: Häwas trifft auf die „Zauberin der Worte“. Und diese stellt fest: Was das kleine Häwas als allererstes braucht, um wieder an sich zu glauben ist eine extragroße Portion Mut. Aufbauend darauf kennt die Zauberin der Worte jede Menge Übungen und Tricks, die nicht nur das Sprechen, sondern auch eine positive und bestärkende Selbstwahrnehmung des kleinen Häwas fördert. Was dieses Buch so besonders macht, ist, dass es keine Wunderheilung gibt. Stattdessen lernen wir, dass es Zeit und Geduld braucht – aber auch Mut und die Unterstützung von Menschen, die an einen glauben.
Marielle Rusches Illustrationen fangen die Gefühle des kleinen Häwas auf so liebevolle und detailreiche Weise ein, dass wir als Leser:innen regelrecht in diese magische Welt hineingezogen werden. Schon auf der Titelseite blicken uns Häwas’ großen Augen entgegen und ziehen uns in seinen Bann. Diese Bildsprache zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Die liebevollen Details und farbenfrohen Szenen laden immer wieder zum Innehalten ein – ein Moment, in dem wir gemeinsam die Bilder auf uns wirken lassen können. Meine Kinder (3 und 4 Jahre alt) und ich haben oft die Bilder ausführlich betrachtet und erkundet, bevor wir weitergelesen haben. Die fantasievollen Illustrationen und die magischen Details, vor allem in der Praxis der Zauberin, verleihen der Geschichte ihren besonderen Zauber. Sie schaffen eine Verbindung, die weit über die Worte hinausgeht und sowohl Vorlesende als auch Kinder dazu einlädt, gemeinsam weiter ins Gespräch zu kommen.
Was dieses Buch außerdem so besonders macht, ist die tiefgehende Botschaft: Jedes Kind ist gut so, wie es ist, und niemand muss perfekt sprechen können, um wertvoll zu sein. Die Geschichte zeigt uns, dass es nicht darauf ankommt, wie gut wir uns ausdrücken, sondern darauf, dass wir den Mut finden, uns überhaupt auszudrücken – auf unsere eigene Art. Das ist nicht nur für Kinder, die Schwierigkeiten mit der Sprache haben, eine wichtige Lektion, sondern auch für Eltern und Fachkräfte, die sie dabei unterstützen. Am Ende des Buches gibt es eine Doppelseite mit hilfreichen Informationen und Anlaufstellen zum Thema Sprachentwicklung sowie einen QR-Code, der zu passenden Ausmalbildern führt, um den Bezug zum kleinen Häwas vertiefend abzurunden.
Fazit
Die Bücher aus dem Jupitermondverlag sind wahre Schätze – wertvoll, einfühlsam und voller Kraft. Sie greifen Themen auf, die so viele Kinder und Familien betreffen, aber in der Kinderliteratur oft kaum Beachtung finden. Jedes Buch des Verlags ist ein kleines Highlight, das in keinem Kinderzimmer fehlen sollte.
Mit Das kleine Häwas wird eine besonders berührende Geschichte erzählt, die sich auf sensible Weise mit Sprachentwicklungsstörungen, dem Anderssein und dem Thema Selbstwertgefühl auseinandersetzt. Dieses Buch zeigt eindrucksvoll, wie wichtig Mut, Geduld und die Unterstützung von vertrauten Menschen sind, um Kindern das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zurückzugeben. Es führt uns vor Augen, dass jedes Kind, unabhängig von seiner Sprache, einzigartig und wertvoll ist.
Das Bilderbuch ist ein liebevoller Begleiter für Familien, logopädische Praxen und pädagogische Fachkräfte, die Kinder auf ihrem sprachlichen Weg unterstützen möchten. Die zauberhaften Illustrationen und die tiefgründige Botschaft machen das kleine Häwas zu einem wertvollen Schatz, der in jedes Kinderzimmer gehört.
Buchinformationen
Titel: Das kleine Häwas
Text: Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz
Illustration: Marielle Rusche
Verlag: Jupitermond Verlag, 2024
Genre: Bilderbuch, Sprachentwicklung und Spracherwerb, Selbstvertrauen
Altersempfehlung: ab 3 Jahren
Seitenanzahl: Hardcover, 32 Seiten